FEATURE | 17 Mar 2022

11 friedenspädagogische Denkanstöße für den Umgang mit dem Ukraine-Krieg

Protestierende halten "stop war" Banner bei einer Demonstration. Protestierende halten "stop war" Banner bei einer Demonstration. Photo: Mathias P.R. Reding from Pexels

Der Ukraine-Krieg stellt zivilgesellschaftliche Akteur*innen vor Herausforderungen. Wir geben Denkanstöße für alle, die sich für nachhaltigen Frieden einsetzen.


 

1. Solidarität zeigen und die Zivilgesellschaft stärken

Gerade auch für die Friedenspädagogik gilt hinsichtlich des Krieges in der Ukraine: Die Solidarität mit allen von Gewalt und Krieg Betroffenen steht an erster Stelle. Das Aufrechterhalten und Vertiefen direkter Kontakte zu den Menschen in Kriegsgebieten sind wichtig. Um lokale zivilgesellschaftliche Akteur*innen jedoch nicht in zusätzliche Gefahr zu bringen, ist höchste Sensibilität und vorausschauendes Handeln gefragt. Dies trifft auch auf Kontakte zu Menschen und Gruppen zu, die sich gegen die Kriegshandlungen des eigenen Landes einsetzen. Ihr couragiertes Handeln stellt häufig eine große Gefahr für sie und ihr Umfeld dar. Daher sollte die Zivilgesellschaft eines Landes umgekehrt auch nicht für die Taten ihrer Regierung in Mithaftung genommen werden. Wir beobachten im Moment, dass Kontakte voreilig abgebrochen werden. Das darf nicht passieren.

2. Geflüchtete begleiten und Unterstützung anbieten

Insbesondere mit Menschen, die vor Krieg und Gewalt fliehen, ist ein konflikt- und traumasensibler Umgang wichtig. Dafür sollten wir auch unser eigenes Handeln reflektieren. Im direkten Kontakt und durch aktives Zuhören lassen sich die Bedürfnisse von Geflüchteten kontextspezifischer verstehen. Erst durch respektvolle und wertschätzende Begegnung und im Dialog kann Vertrauen entstehen. Eigene Bedürfnisse, Erwartungen und Interessen, die dem Handeln unterliegen, sowie die jeweils eigene Rolle müssen immer wieder ins Bewusstsein gerückt und kritisch hinterfragt werden. Nur so kann Begleitung und Unterstützung bedürfnisorientiert angeboten werden. Es gilt, wie schon immer: Alle vor Gewalt, Krieg und Verfolgung Schutz suchenden Menschen sollten gleichermaßen unterstützt werden.

Wer beitragen möchte, sollte sich bereits bestehenden Gruppen oder Institutionen im Bereich der Flüchtlingsarbeit oder humanitären Hilfe anschließen. Deren Erfahrungen, Professionalität und etablierten Organisationsstrukturen ermöglichen reibungslose Abläufe und verhindern Doppelstrukturen.

Ob in der Familie, in der Nachbarschaft oder in der Schule: In Zeiten von Krieg, bedrückender Medienberichterstattung und unmittelbarer Betroffenheit sind Gespräche in geschützten Räumen wichtiger denn je.

3. Gespräche ermöglichen, aktiv zuhören, Perspektiven wechseln

Ob in der Familie, in der Nachbarschaft oder in der Schule: In Zeiten von Krieg, bedrückender Medienberichterstattung und unmittelbarer Betroffenheit sind Gespräche in geschützten Räumen wichtiger denn je. Ängste können so anerkannt, gefühlt und ausgedrückt werden. Es bleibt essentiell, einander aktiv zuzuhören, um Vertrauen herzustellen und für Einblicke in andere Erfahrungswelten. So steigen die Chancen für einen konstruktiven persönlichen Austausch zu Haltungen und gesellschaftlichen Werten. Worte, die andere beleidigen oder verletzen, müssen vermieden werden. Im Gespräch sollten Meinungen und Haltungen kritisiert werden, nicht aber die Menschen, die sie zum Ausdruck bringen.

4. Informationen hinterfragen und Standpunkte differenzieren

Medienberichte aus Kriegs- und Krisengebieten bieten oft nur punktuelle Einblicke, sind Momentaufnahmen oder spiegeln subjektive Wahrnehmungen wider. Propaganda und Desinformation kommen hinzu. Daher gilt es, einseitigen, emotionalisierenden oder reißerischen Berichten oder Bildern kritisch zu begegnen und diese nach Absicht, Zielen und Entstehungshintergrund zu hinterfragen. Der Abgleich mehrerer Informationsquellen ist wichtig und es gilt, Gruppenzuschreibungen und dichotome Gegenüberstellungen in Gut-Böse Schemata zu erkennen, zu adressieren und nicht weiterzuverbreiten.

5. Krieg analysieren und Hintergründe erfragen

Angesichts der brutalen Wirklichkeit des Krieges fällt eine abwägende Konfliktanalyse nicht leicht. Aber es gilt, Beiträge aller Seiten zur Konflikteskalation zu untersuchen, wie zum Beispiel politische, wirtschaftliche oder identitätsbezogene Ursachen. Der Krieg in der Ukraine zeigt wie Ereignisse aus der Vergangenheit und dementsprechende Narrative gezielt für Kriegspropaganda instrumentalisiert werden können. Nachhaltigen Frieden nach einem Krieg kann es nur geben, wenn es keine Tabus bei der Aufarbeitung der Konfliktgenese gibt.

6. Politische Reaktionen reflektieren, Diplomatie und gewaltfreie Alternativen ausbauen

Krieg ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die Antworten demokratisch gewählter Regierungen auf Kriegshandlungen autoritärer oder diktatorisch regierter Staaten müssen auch in Notlagen friedensorientierte Perspektiven aufzeigen. Diplomatie und andere Ansätze ziviler Konfliktbearbeitung sind aufrechtzuerhalten und so rasch wie möglich auszubauen. Militärische Einsätze dürfen nicht zum Normalfall werden. Gerade angesichts kriegerischer Gewalt gilt es friedenslogisches Denken zu fördern, gewaltfreie Alternativen stärker sichtbar zu machen.

7. Dialoge organisieren und Gemeinsamkeiten suchen

Genauso wie Gespräche und Verhandlungen als Mittel der Diplomatie auf Regierungsebene unverzichtbar sind, haben Dialoge innerhalb und zwischen zivilgesellschaftlichen Akteur*innen eine herausragende Bedeutung für das Entstehen von gegenseitiger Akzeptanz und für das Aufzeigen von Wegen aus der Gewalt. Regelwerke für das gewaltfreie Zusammenleben können nur gemeinsam und nicht gegeneinander entwickelt werden. Wir sollten uns darauf fokussieren, was Menschen miteinander verbindet und was zukünftig sozialen Zusammenhalt schaffen kann.

8. Wertorientierung sichtbar machen und Dilemmata erkennen

Für die Friedenspädagogik sind die Werte Gewaltfreiheit und Frieden grundlegend für Fühlen, Denken und Handeln. Die Konfrontation mit Gewalt und Krieg zwingt dabei immer wieder zur Selbstreflexion und führt zu schwerwiegenden Dilemmata. Wir sollten individuelle Zweifel und Gewissenskonflikte offenlegen und uns darüber austauschen, um unsere Authentizität und Glaubwürdigkeit zu erhöhen und neue Perspektiven zu eröffnen. Es gehört zum Anspruch der Friedenspädagogik, auch widersprüchliche Zusammenhänge zwischen persönlichen Haltungen und der Bewertung politischen Entscheidungen herzustellen und bewusst zu machen. Dazu gehören Abwägungsprozesse, zum Beispiel zwischen dem Wert Gewaltfreiheit und dem Recht auf Selbstverteidigung – persönlich wie politisch.

9. Frieden vorbereiten und gewaltfreie Handlungsansätze entwickeln

Wenn Menschen aktuell von Krieg und Gewalt betroffen sind, fällt es schwer, über Wege zum Frieden nachzudenken. Es kann aber auch Mut machen und Kräfte freisetzen. Wie soll ein Zusammenleben nach einem formalen Kriegsende gestaltet werden? Dabei geht es sowohl um die Aufnahme von geflüchteten Menschen, die in Deutschland ankommen, als auch um das Weiterleben im ehemaligen Kriegsgebiet. Es geht um die Beziehungen zur Zivilgesellschaft im Land, von dem die Aggressionen ausgehen. Und es geht auch um die friedensorientierte Reform internationaler Ordnungsstrukturen oder um die Gestaltung einer neuen regionalen Sicherheits- und Friedensarchitektur zwischen den Staaten. Die Ansätze ziviler Konfliktbearbeitung auf (zivil-)gesellschaftlicher, nationaler und internationaler Ebene müssen überdacht und neu ausgerichtet werden. Das Ziel dabei ist Vertrauen herzustellen, gemeinsame Sicherheit zu gewährleisten und Friedensprozesse weiterzuentwickeln.

10. Unsicherheiten erkennen, Widersprüche aushalten und sich selbst schützen

Friedenspädagogik setzt auf gemeinsame und offene Lernprozesse, gerade bei der Suche nach einem persönlichen Standpunkt und der eigenen Haltung in extrem komplexen, volatilen Situationen. Authentizität schafft Vertrauen, vor allem gegenüber Zielgruppen wie Schüler*innen und Jugendlichen. Niemand sollte sich unter Druck setzen, auf alle anstehenden Fragen eine oder gar die richtige Antwort zu haben, die es insbesondere in Dilemmasituationen nicht gibt.

Die direkte oder medial vermittelte Konfrontation mit Gewalt trifft uns physisch, psychisch und emotional und erfordert klares Setzen von Grenzen sowie aktive Selbstfürsorge und Selbstschutz. Es ist nachhaltiger gezielt Anspannung und Stress abzubauen, Ablenkung zu suchen oder sich eine Auszeit vom Engagement einzuräumen, als erschöpft durchhalten zu wollen, wenn wir uns engagieren oder uns Nachrichten überfluten und wir sie nicht mehr verarbeitet können.

11. Friedensvorbereitung und Klimaschutz zusammendenken

Es gibt derzeit viele Vorschläge, wie Menschen hierzulande Energie sparen können um die Öl- und Gaseinnahmen zu schmälern, die unmittelbar in die Kriegskassen fließen. Diese und ähnliche Maßnahmen sind sicher nicht ausreichend um den Krieg in der Ukraine zu beenden oder neue Konflikteskalation zu verhindern – aber sie haben gleichzeitig positive Effekte nicht nur auf individueller Ebene für die persönliche Haushaltskasse, sondern auch auf kollektiver für den gemeinsamen Klimaschutz. Wir sind der Überzeugung, dass wir Frieden und Klimaschutz ganz nach dem Motto „Frieden für den Frieden und das Klima!“ zusammendenken sollen.


Autor*innen:
Friedenspädagogik-Team Tübingen der Berghof Foundation.

Bei Fragen und Anregungen wenden Sie sich bitte an Uli Jäger, Head of Department Global Learning for Conflict Transformation, Email: email hidden; JavaScript is required.


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