FEATURE | 28 Apr 2023

„Unser Wohlstand hat einen Preis, damit müssen wir uns auseinandersetzen“

Interview mit Luise Amtsberg, Schirmherrin der Kampagne „#INDENFOKUS“

Luise Amtsberg has been the Federal Government Commissioner for Human Rights Policy and Humanitarian Aid since 2022. Luise Amtsberg war vor Kurzem im Libanon und betont, wie wichtig es ist die Ursachen für die Krisen im Land zu bekämpfen. Photo © Deutscher Bundestag / Inga Haar

Was haben wir mit den Krisen im Libanon, in Südsudan oder Bangladesch zu tun? Antworten von der Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregierung.


 

Vergessene Krisen #INDENFOKUS

Weltweit gibt es Regionen, in denen Menschen unter Hunger, Vertreibung oder gewaltsamen Konflikten leiden. Medial erhalten mache Regionen jedoch nur wenig Aufmerksamkeit. Darum lenken wir zusammen mit knapp 30 NGOs in einer deutschlandweiten Kampagne Aufmerksamkeit auf diese „vergessenen humanitäre Krisen“. Die Kampagne nimmt dafür stellvertretend die Krisen in Bangladesch, dem Libanon und Südsudan in den Blick.

Luise Amtsberg ist seit 2022 Beauftragte der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und humanitäre Hilfe und wurde von Missio München für die Kampagne interviewt.

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Missio München: Sie waren vor kurzem im Libanon - was waren Ihre Eindrücke vor Ort, gerade auch im Vergleich zu früher, etwa 2015/2016?

Luise Amtsberg: Ich habe das Land nicht wiedererkannt. Ich wusste, dass es dem Libanon nicht gut geht. Dass die Unterschiede zu von vor 7 Jahren jedoch so eklatant sind, hätte ich nicht erwartet. Bereits 2015/16 war die soziale Lage nicht einfach. Es war eine enorme Herausforderung für den Libanon, durch die Aufnahme von syrischen Geflüchteten fast ein Viertel seiner Bevölkerung hinzuzubekommen. Man hat, das gehört zur Wahrheit dazu, Libanon erst dann wirksam unterstützt als sich immer mehr syrische Geflüchtete aufgrund der mangelhaften Versorgungslage auf den Weg nach Europa gemacht haben.

MM: Wie ist die Lage heute?

LA: Das Land steht am Rand eines Kollapses; man kann sogar sagen, es kollabiert vor unseren Augen. Es gibt extreme Misswirtschaft und staatliche Korruption. Die Währung hat in kürzester Zeit 95% ihres Wertes verloren. Die Menschen haben keinen Zugang mehr zu ihrem Ersparten. Stromausfälle dominieren den Alltag. Über 70% der Menschen leben in Ernährungsunsicherheit und wäre auf externe Hilfe angewiesen, zum Beispiel des Welternährungsprogramms. Die medizinische Versorgung ist mehr als mangelhaft, Richter streiken und seit Beginn des Jahres sind die staatlichen Schulen geschlossen. Hinzu kommt das politische Vakuum: Seit November 2022 regiert die alte Regierung im Übergang, weil es dem neuen Parlament nicht gelingt, sich auf einen neuen Präsidenten zu einigen. Dass es weiterhin keine ernstzunehmende Aufklärung bezogen auf die Hafen-Explosion, die Beirut als Stadt massiv traumatisiert hat, gibt, führt zu noch mehr Unzufriedenheit. Den Libanon als „vergessene Krise“ zu beschreiben, ist daher vollkommen richtig.

Luise Amtsberg, Beauftragte der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und humanitäre Hilfe, ist Bundestagsabgeordnete der Grünen und vertritt den Wahlkreis Kiel. Zuvor studierte sie Islamwissenschaft, Politik und Evangelische Theologie.

MM: So leben jetzt nicht nur syrische Geflüchtete in Armut, sondern auch die heimische Bevölkerung.

LA: Ganz genau. Wenn die Mehrheit der Menschen im Libanon nicht mehr in der Lage ist, mehr als ein Bett in einer kalten Wohnung ohne Fenster und ohne Essen zu haben und sie nur überleben, weil es das World Food Programme und die internationale Unterstützung gibt, kommt es logischerweise zu Spannungen. Von der politischen Ebene werden zunehmend die syrischen Geflüchteten für alles verantwortlich gemacht, dabei liegen die Ursachen für die multiplen Krisen im staatlichen Handeln selbst.

MM: Welche Lösungen sehen Sie?

LA: Es ist nicht einfach, in einem Land, in dem so viel Misswirtschaft und Korruption herrscht, aktiv zu sein. Deutschland unterstützt die Menschen im Libanon deshalb vor allem durch die humanitären Organisationen und NGOs vor Ort. Was sehr wichtig ist, gerade bei Krisen, die nicht so im Fokus stehen: Man muss eine verlässliche Finanzierung erreichen. Und da sehen ich im Libanon einen weiteren erschwerenden Umstand: Die Golfstaaten, die sehr aktiv waren, vor allem Saudi-Arabien, ziehen ihre humanitäre Hilfe aufgrund der Misswirtschaft zunehmend ab. Wir sollten also in den Dialog mit den Golfstaaten gehen und versuchen, diese wieder an Bord zu holen. Außerdem müssen wir die vielfältigen Krisen im Libanon auch auf die Agenda des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen heben.

Unsere Arbeit im Libanon

Um die Ursachen der beispiellosen Wirtschafts-, Finanz- und humanitären Krise im Libanon zu bekämpfen, verfolgen wir einen einzigartigen partizipatorischen Ansatz auf verschiedenen politischen und gesellschaftlichen Ebenen. Wir ergänzen die dringend benötigte humanitäre Hilfe, indem wir Brücken über politische Gräben hinweg bauen und dazu beitragen, dass Randgruppen stärker in politische Prozesse eingebunden werden.

Erfahren Sie mehr über unsere Arbeit im Libanon und wie Sie uns unterstützen können.


MM: Könnten mehr Flüchtlinge nach Syrien zurückkehren?

LA: Wir hören diese Forderung immer wieder aus Regierungskreisen. Dort sagt man, dass die internationale Unterstützung von syrischen Geflüchteten im Libanon der Grund dafür sei, dass so wenige Menschen nach Syrien zurückkehren. Das ist natürlich eine zynische Argumentation. Wenn man mit syrischen Geflüchteten spricht, erfährt man, dass von Rückkehrbereitschaft keine Rede sein kann. Viele haben in ihrer Heimat schlimmste Verbrechen erlebt, viele Angehörige verloren, manche von ihnen kennen ihr Herkunftsland quasi nur aus Erzählungen. Dem Versuch, aus Eigeninteresse die Situation in Syrien schönzureden und somit die Beziehungen zu Assad zu normalisieren, sollten wir uns klar entgegenstellen.

MM: Wie kann man diese und andere vergessenen Krisen stärker in den Fokus rücken?

LA: Ich finde, man sollte sich zunächst fragen, warum es Krisen nicht ins öffentliche Bewusstsein schaffen. Häufig ist das der Fall, wenn kein unmittelbarer Zusammenhang zu uns oder unserem Handeln gesehen wird. Dabei lohnt es sich genau hinzusehen. Zum Beispiel die Klimakrise und ihre Auswirkungen auf Länder wie Südsudan. Oder Bangladesch und die Bekleidungsindustrie. Man muss sich in westlichen Industrienationen die Frage stellen: Wie hoch ist der Preis unseres Wohlstandes? Auf wessen Kosten geht er? Schadet unser Konsumverhalten anderen auf der Welt?

MM: Was antworten Sie?

LA: Ich würde sagen: ja. Und daraus ergibt sich eine Art Verursacher- und Verantwortungsprinzip. Zu dieser Verantwortung gehört auch, sich selbst zu fragen, was wir verbessern können. Ein gutes Beispiel ist das Lieferkettengesetz. Dieses hat das Potential, dass wir durch klare Regeln in Deutschland Missständen andernorts begegnen. Diese Zusammenhänge herzustellen, sind die Grundlage dafür, vergessenen Krisen in den Fokus zu rücken.

MM: Wird nicht zur Zeit alles dominiert von den beiden großen Krisen Russland/ Ukraine und dem Erdbeben in der Türkei und Syrien?

LA: Natürlich nehmen akute Notlagen wie ein Erdbeben oder Kriege viel Raum ein, auch was die humanitäre Hilfe angeht. Das ist auch vollkommen richtig so. Aber es entsteht natürlich ein eklatanter Widerspruch, wenn Deutschland als mittlerweile zweitgrößter humanitärer Geber, der mehr Verantwortung in der Welt übernehmen möchte, gleichzeitig bei steigenden Krisen und Konflikten die Mittel für die humanitäre Hilfe, die Menschenrechtsarbeit oder langfristige Projekte kürzt. In dieser sehr harten politischen Auseinandersetzung befinden wir uns jährlich in den Haushaltsverhandlungen. Als Beauftragte kann ich nur immer wieder darauf hinweisen, wie wichtig der Einsatz zur Linderung schlimmer Krisen in dieser Zeit ist. Nicht zuletzt um das Internationale System zu stärken und zu erhalten.


Dies ist ein Auszug aus dem Interview, das Mission München im Rahmen der Kampagne „#INDENFOKUS“ mit Luise Amtsberg geführt hat.


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