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FEATURE | 13 Apr 2022

Zur Situation in Afghanistan: Dialog ist der einzige Weg aus der Krise

Unsere Afghanistan-Expertin Theresa Breitmaier im Interview mit der Tagesschau

Afghan girls at school in Herat. Afghanische Mädchen in der Schule in Herat. Photo: Shutterstock

Angesichts der humanitären Krise wird nur ein konstruktiver Dialog zwischen Taliban-Regierung und internationaler Gemeinschaft den Afghan*innen nachhaltig helfen.


 

Acht Monate nach der Machtübernahme der Taliban befindet sich Afghanistan in einer katastrophalen wirtschaftlichen und humanitären Krise. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen sind in den kommenden Monaten eine Million Kinder von Hunger bedroht. Fünf Millionen Afghan*innen haben ihr Land bereits verlassen. Auch schon vor der Machtübernahme war Afghanistan eines der ärmsten Länder der Welt. Die aktuelle Politik vieler westlicher Regierungen verstärkt die humanitäre Katastrophe und ein Wiederaufflammen von Gewalt ist nicht ausgeschlossen. In dieser Situation betont die Berghof Foundation immer wieder, dass nur ein Dialog zwischen internationaler Gemeinschaft und den neuen Machthabern zu einer Verbesserung der Situation für die Afghan*innen führen kann – auch in Bezug auf Grundrechte, wie beispielsweise dem Recht von Mädchen, die Schule besuchen zu können.

Unsere Afghanistan-Expertin Theresa Breitmaier wurde zur Lage im Land für ein Social Live auf Tagesschau.de interviewt.

Nach dem Sieg der Taliban im August 2021 stellten viele Staaten ihre für die afghanische Bevölkerung seit vielen Jahren überlebenswichtigen finanziellen Hilfen ein und verhängten Sanktionen gegen Afghanistan. Diese Politik droht das Land in den völligen wirtschaftlichen Kollaps zu stürzen. Viele Afghan*innen werden zur Flucht beziehungsweise zu Verzweiflungstaten wie dem Verkauf von Organen getrieben. Berichten zufolge sehen sich einige Familien sogar gezwungen, ihre Kinder zu verkaufen. Mittel- bis langfristig drohen diese Entwicklungen die staatlichen Institutionen und die Mittelschicht des Landes unwiederbringlich zu zerstören, was für die Perspektive nachhaltigen Friedens und Wohlstands in Afghanistan verheerend wäre.

Nachdem in den USA einer Klage von Angehörigen von Opfern der Anschläge am 9. September 2001 gegen die Taliban stattgegeben wurde, beschloss die US-Regierung, zusätzlich die Auslandsreserven Afghanistans in Höhe von sieben Milliarden US-Dollar zu beschlagnahmen. Der jüngste und ein ungeheuerlicher Schritt in einer Reihe von Maßnahmen, die die Krise im Land verschärfen und den Beziehungen Afghanistans zu den USA und internationalen Partnern langfristig schaden. Die US-Regierung muss einen Weg finden, diese Vermögenswerte auf verantwortungsvolle Weise freizugeben und sie muss ihren internationalen Partnerorganisationen ermöglichen, die Hilfslieferungen an das Land wiederaufzunehmen, um eine weitere Zuspitzung der humanitären Katastrophe zu verhindern.

Nur wenn die Gestaltung einer konstruktiven und effektiven Kommunikation zwischen internationaler Gemeinschaft und Taliban-Regierung gelingt, wird es mittelfristig möglich sein, im Land die Strukturen zu schaffen, die zur Versöhnung und zum Aufbau langfristigen Friedens nötig sind.

Mit der Machtübernahme und dem Anspruch auf alleinige Regierungsführung haben die Taliban die Verantwortung für das Wohl ihrer Bevölkerung übernommen. Das beinhaltet auch die Verpflichtung, sich interne sowie externe Legitimität zu erarbeiten, was nur gelingen kann, wenn die Ursachen des langjährigen Konflikts in Afghanistan aufgearbeitet werden. Es muss außerdem darauf hingearbeitet werden, dass alle Teile der afghanischen Bevölkerung ihre Interessen durch partizipative Regierungsstrukturen vertreten sehen. Die Ende März abrupt gefällte Entscheidung, Mädchen ab dem Jugendalter den Besuch öffentlicher Schulen zu verbieten, stellt einen nicht hinnehmbaren Rückschritt im Vertrauensaufbau mit der afghanischen Bevölkerung dar. Die amtierende Regierung handelte gegen ein Versprechen, dass sie der eigenen Bevölkerung öffentlich gegeben hatte und löste damit ungemein große Frustration und Empörung aus. Außenpolitisch hat diese Entscheidung dem aufkeimenden Dialog zwischen Taliban-Regierung und der internationalen Gemeinschaft einen schweren Schlag erteilt. Dieser Dialog sowie eine konstruktive Auseinandersetzung der internationalen Gemeinschaft mit der amtierenden afghanischen Regierung sind dennoch unabdingbar, um das Ziels eines friedlichen und wohlhabenden Afghanistans zu erreichen. Dabei muss jedoch klar kommuniziert werden, dass der Schulbesuch aller Mädchen ein nicht verhandelbarer Bestandteil von Wohlstand und einer friedlichen Zukunft ist, und dass sich Einschränkungen in diesem Bereich negativ auf potentielle internationale Zusammenarbeit auswirken.

Seit 2016 unterstützt die Berghof Foundation Friedensbemühungen in Afghanistan. Wir sind davon überzeugt, dass ein Fortführen der Hilfen und des Engagements der internationalen Gemeinschaft der einzige Weg sind, die humanitäre Katastrophe, der das Land ausgesetzt ist, abzumildern. Nur wenn die Gestaltung einer konstruktiven und effektiven Kommunikation zwischen internationaler Gemeinschaft und Taliban-Regierung gelingt, wird es mittelfristig möglich sein, im Land die Strukturen zu schaffen, die zur Versöhnung und zum Aufbau langfristigen Friedens nötig sind. Um Schritt für Schritt echten Dialog aufzubauen, müssen die Taliban und die internationale Staatengemeinschaft einen Weg finden, den Austausch der immer gleichen Schlagworte und unrealistischen, absoluten Forderungen zu beenden. Beide Seiten müssen sich auf Basis nuancierter Analysen auf konkrete und schrittweise aufeinander aufbauende Ziele einigen, deren Umsetzung auch realistisch ist. Nur durch einen solchen Dialog – in Kombination mit der Einlösung der geleisteten Versprechen – kann nach und nach gegenseitiges Vertrauen entstehen.

Der Aufbau konstruktiver Beziehungen wird nicht nur der afghanischen Bevölkerung zu Gute kommen, sondern auch der internationalen Gemeinschaft selbst. Ohne wirksame Unterstützung wird die wirtschaftliche und humanitäre Krise in Afghanistan weiterhin schwerwiegende wirtschaftliche und sicherheitsrelevante Folgen für die Nachbarländer, für Europa und viele Staaten weltweit haben. Je länger es jedoch dauert, bis eine Annäherung zwischen der internationalen Gemeinschaft und der Taliban-Führung zu greifbaren Ergebnissen führt, desto mehr wird die Hoffnung, die die Afghanen noch in die weltweite Solidarität setzen, untergraben.


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Florian Lüdtke
Media and Communications Manager
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